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EDITORIAL


LABOR ist entstanden wie ein Apfelmaennchen: Erst war das Chaos; nun entwickeln sich daraus interessante, neue Strukturen.

LABOR ist Chaos-kompatibel. Ein Teil der LABOR-Crew war und ist dem Chaos Computer Club verbunden. Ich selbst habe drei Jahre lang die "Datenschleuder", das 'wissenschaftliche Fachblatt fuer Datenreisende', redaktionell betreut.

Die journalistischen und juristischen Auswirkungen des vom CCC e.V. im September 1987 an die Oeffentlichkeit getragenen NASA-Hacks haben zu internen Kontroversen auch ueber die Zukunft des Chaos Computer Clubs gefuehrt. Jeder Musiker, der laenger in einer Band spielt, kennt das Problem: Die eine Seite plaediert fuer eine Professionalisierung, die andere Seite legt weiterhin Wert auf einen lupenreinen Amateurstatus.

Im Fruehjahr 1988 nahm die Idee Formen an, neben dem CCC e.V. einen weiteren Freiraum zu oeffnen - ohne Vereins- Konstitution, ohne Medien-Legende, und unter Beruecksichtigung der Erfahrungen, die in den zurueckliegenden Jahren gemacht worden waren. Wir - die Amateure - wollten in neuer Frische die gemeinsame Absicht fortfuehren, Erkenntnisse ueber die Moeglichkeiten, die Veraenderungskrfte und die Schattenseiten des Phaenomens Computer zu gewinnen, und zwar ambitioniert und mit Spass, spielerisch, experimentell und kritisch. So ist das LABOR enstanden, als Forschungsbereich fuer eine froehliche Wissenschaft.

Chris Scheuer, einer der virtuosesten Comiczeichner im deutschsprachigen Raum, hat dankenswerter Weise, neben dem Titel-Schriftzug fuer unsere LABOR-Forschungsberichte, auch unser Verhaeltnis zum CCC e.V. ironisch ins Bild gesetzt. (Das Plakat in der ersten Ausgabe ist mit Layoutkleber an die letzte Seite geheftet und laesst sich mit etwas Fingerspitzengefuehl unbeschaedigt aus dem Heft nehmen.) Darueber hinaus haben wir Martin Schreiber fuer seine Illustrationen zu dem Bericht ueber E-Mail in der Sowjetunion ("Networksibirsk", ab Seite 8) und "Die besten Bars fuer Hacker" zu danken, ebenso Sebastian Kusenberg und Marie Mannschatz fuer das Foto des klugen Saeuglings, das die Titelseite der LABOR-Geburtsausgabe ziert.

Das erste laufende Experiment war das Zustandekommen der LABOR-Gemeinschaft selbst. Im Sommer und Herbst dieses Jahres, waehrend die Gruppe wuchs und fluktuierte, wurden unterschiedliche Formen von konstruktivem Durcheinander (siehe Apfelmaennchen) ausprobiert. In dieser Zeit fand ein weiterer Teil der LABOR-Crew im Inneren eines PC-Netzwerks zueinander: im 'Forum', dem Online-Konferenzsystem von Thomas Schewes bemerkenswerter 'Tornado Multibox Hamburg'. Hierzu ein erster Bericht von Winnifred ("Im Forum nachts um halb Eins", ab Seite 12).

Mit Hilfe von Leuten aus Berlin, Bielefeld, Duesseldorf, ÇÇGoettingen und Stuttgart spannten sich die Faeden des Ideennetzes ueber Hamburg hinaus. padeluun und Rena Tangens, die mehrere Wochen in Kanada unterwegs waren, berichteten via GeoNet fortlaufend ueber ihre Experimente und Ergebnisse auf dem Gebiet der Tele-Mail-Art ("Online-Party", ab Seite 14).

Um dem Vorwurf, der Computer sei eine 'Loesung ohne Problem', konstruktiv entgegenzutreten, entwickeln die LABOR-Hardwarefredis oft duesentriebhaften Ehrgeiz. Einen ersten Blick in die Werkstatt gibt 'Reinhard's Bastelstuebchen' frei ("Ein Geigerzhler, ein Mikrocomputer und ich", ab Seite 18).

Die Prinzipien, nach denen sich die LABOR- Crew organisiert, beschreibt ein Zitat aus einem Aufsatz ueber 'Praktische Entwicklungshilfe fuer Programmierer': "Anscheinend ist fuer die Selbstorganisation ein bestimmtes Mass an Planungslosigkeit und Ungleichgewicht notwendig, gleichzeitig hat das sich selbst organisierende Team aber ein hohes Mass an Stabilitaet. Dadurch, dass keine Ordnung von aussen aufgezwungen wird, sondern diese sich durch Selbstorganisation einstellen kann, ist das Team insgesamt unabhaengiger von aeusseren Einfluessen (und damit stabiler)."

In der ziemlich ungezwungenen LABOR-Atmosphaere sind schon jetzt viel zu viele Ideen ausgebruetet worden. Wir haben einige Gebiete markiert, zu denen es nach unserem Dafuerhalten an allgemein zugaenglichen Informationen fehlt. Dazu werden wir in den folgenden LABOR-Ausgaben Schwerpunkte in dem Material setzen, das zur Veroeffentlichung bereitsteht oder erarbeitet wird (LABOR Realitaetsdienst). Ebenso wollen wir dafuer sorgen, dass den Lesern in LABOR Berichte vorgelegt werden, auf die man auch in der Praxis immer wieder zurueckgreifen kann, so etwa die Serie ueber Unix-Netzwerke, die in dieser Ausgabe beginnt ("uucp, usenet, subnet und der Rest der Welt", ab Seite 10).

SKIZZEN AUS DEM LABOR-JOURNAL: ------------------------------

*DIE GRUNDFORDERUNG NACH FREIEN INFORMATIONEN FR ALLE MENSCHEN: Welt ohne Geheimnisse - ein utopischer Anspruch, auf den wir aber immer wieder zurueckkommen muessen, um wichtige Fragen deutlich genug stellen zu koennen.

* VERNETZUNG - lokal, regional, national, global: -Entwicklung, Kartierung, Moeglichkeiten und Praxis in den Netzen auch fuer Eisteiger nachvollziehbar beschreiben; -Berichte, Erfahrungen und Mitbringsel von Online- Expeditionen;

*ENTMYTHOLOGISIERUNG: -Den Mythos vom Globalen Dorf knacken. In Wirklichkeit funktioniert die allerneueste Hochtechnologie auch nur mit virtuellem Kaugummi und Heftpflaster geklebt. -Den Hacker-Mythos knacken. Hacker als "ganz normale ÇÇVerrueckte". Den Hacker-Begriff neu bestimmen (Social Hacking, Psycho-Hakking);

*BEITRGE ZU EINER REFORM des 2. Wirtschaftskriminali- taetsgesetzes (die 'Hackerparagraphen') im Sinne der Steuergesetzgebung (Straffreiheit bei Selbstanzeige);

*EXPERIMENTE UND FELDFORSCHUNGEN: -Labor-Datenbank ("Info-Schlingpflanze") auf EXHH; -Online-Demokratie: 'Votings' auf uucp; oeffentliche Zugaenge zu staatlichen Informationen / PARLACOM; Abstimmungen via Mbx; Modelle elektronischer Demokratie entwerfen, durchspielen und ausarbeiten. -Wissenschaft und Kunst: Minus Delta t, "mobiles Radio"; kritische Betrachtung der durch die Computergrafik gepraegten Aesthetik; -Verhaltensforschung: 'die digitalen Graugaense'; Beobachtungen und Untersuchungen zu den Jargons auf den Netzwerken; soziale und kulturelle Konstellationen in der 'electronic community'; -Datenschutz versus Wie schuetze ich mich vor Daten: Information & Individualismus. Daten & Schamhaftigkeit. Affirmativstrategien (Gib ihnen mehr Daten, als sie wollen).

Die naechste Ausgabe von LABOR erscheint voraussichtlich Anfang Februar.

Peter Glaser

 

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